Frage: Ggender disappointment

Liebe Frau Dipl.-Psych. Hartz, ich bin seit 5 Wochen schwanger und habe mir auch vorher bereits immer die Frage gestellt, was wird es werden? Statt glücklich über eine Schwangerschaft zu sein und auch zu bleiben. Ich habe versucht am Anfang den Mythen nachzugehen um ein "Mädl" zu bekommen, nun hat es endlich geklappt, ich freue mich total, dass es überhaupt geklappt hat, aber dieser innerliche Struggle lässt mir keine Ruhe. Sowohl mein Freund, als auch ich wollten eigentlich ein Mädl haben, aber warum? ...Kann ich nicht beantworten. Mein Freund sagt auch wenn es ein Junge wird, macht ihm das nichts aus. Aber er kommt eh schneller wie ich mit verschiedenen Szenarien zurecht. Da ich Einzelkind bin, hatte ich mir gedacht, dass ich wahrs. auch nur ein Kind haben möchte und dann am liebsten eben ein Mädl. Nun habe ich immer wieder diese "Ängste" oder gar Panikattacken, was wenn es ein Junge wird? Ich möchte unbedingt erreichen, dass ich am Tag der Geschlechtserfahrung nicht "entäuscht" bin. Das hat mein Kind m/w einfach nicht verdient. Denke oft an Vorteile eines Jungen und das man egal wie sehr man es versucht ein Mädchen zu bekommen, dennoch ein Junge werden kann. Warum fühlt sich ein Junge fremd an und ein Mädchen gewollt? Was kann ich tun, endlich keine "Ängste" mehr nur allein durch den Gedanken zu haben? Vielen Dank! LG, Jenny 

von Dietanzhasis am 22.02.2024, 11:00



Antwort auf: Ggender disappointment

Liebe Jenny, Herzlichen Glückwunsch zur Schwangerschaft und Danke für Ihre Frage! Das Thema Gender Disappointment ist eher ein Tabuthema und in Bezug auf die eigenen Kinder eine Präferenz zu haben, ist schambesetzt. Deshalb ist es stark von Ihnen, auszusprechen, was viele sich nicht trauen, aber vielleicht doch denken. Ihre hohe Selbstreflexion und die Ehrlichkeit sind ein wichtiger Schritt sich zu öffnen und die eigenen Erwartungen und Bewertungen zu hinterfragen und zu erweitern. So kommt Beweglichkeit in scheinbar starre Bewertungsmuster und es kann die Möglichkeit entstehen, den eigenen Horizont zu erweitern. Die meisten Menschen bilden Präferenzen, kategorisieren ihre Welt in Vertrautes und Unvertrautes, bilden Stereotype, bewerten. Wir Menschen umgeben uns lieber mit Anderen, die uns ähnlich sind, wir wählen das Vertraute. Das ist in der Psychologie gut erforscht. Deswegen ist es auch so sinnvoll gesellschaftliche Strukturen zu schaffen, dass wir Diversität als „normal“ und vertraut erleben, weil sonst nicht alle die gleichen Chancen bekommen. Auf individueller Ebene hilft es das zu tun, was Sie gerade tun: erkennen, ehrlich ansprechen, sich selbst reflektieren und den Blickwinkel verändern. Warum wählen wir das Vertraute? Es ist ganz banal: weil wir es uns leicht machen wollen und uns nicht verändern müssen. Aus ein paar offensichtlichen Faktoren leiten wir ab, dass die andere Person dann auch in anderen Aspekten so tickt wie wir. Sie gehört also zum eigenen Camp. Insofern finde ich in Ihrem Beitrag nachvollziehbar, dass Sie sich ein Mädchen wünschen, wenn Sie doch selbst als Mädchen aufgewachsen sind und Einzelkind waren. Es ist die Realität, die Sie kennen, es ist vertraut. Die Vorstellung eines Jungen oder eine Familie mit vielen Geschwisterkindern fühlt sich aus dieser Perspektive erstmal fremd an.  Gleichzeitig sprechen Sie selbst auch schon an, dass es dem Kind gegenüber nicht fair ist, eine so klare Präferenz zu haben, da es ja nichts für sein Geschlecht kann. Das ist Zufall, die Laune von Mutter Natur. Ich gebe Ihnen gerne einen Ausblick auf Ihre zukünftigen Erfahrungen als Eltern, die jetzt schon in der frühen Schwangerschaft beginnen: Es wird Ihnen sicherlich noch öfter begegnen, dass Sie eine klare Vorstellung oder auch einen klaren Wunsch haben, wie Ihr Kind sein soll oder wie es sich im Idealfall zu verhalten hat. Sie werden sich als Eltern etwas vornehmen und es sofort wieder über den Haufen werfen und sich anpassen, weil Ihr Kind anders reagiert als gedacht. Als Eltern können Sie Rahmen schaffen, aber wie sich Ihr Kind entwickelt, welche Präferenzen es selbst entwickelt, liegt nicht in Ihrer absoluten Kontrolle. Es kann z.B. sein, dass Ihr Kind eine Tochter wird, die Sie sich als liebes Mädchen in Blumenkleidern vorgestellt haben, die aber ein richtiger Rowdy wird, kurze Haare tragen will und lieber im Schlamm Ball spielt als Blumen zu pflücken. Es könnte natürlich auch genau umgekehrt sein, dass Sie ein fußballspielendes Mädchen im Kopf haben, das aber am liebsten seine Haare mit dem Lockenstab frisiert und völlig unsportlich ist. Es kann sein, dass Ihr Schulkind lieber dicke Bücher liest, als auf Kindergeburtstagen mit anderen rumzuspringen, so wie alle anderen Kinder seiner Klasse. Es kann sein, dass Ihr Teenie mit einem Piercing im Gesicht nach Hause kommt, obwohl Sie davon nichts halten. Und es kann z.B. auch sein, dass Ihr erwachsenes Kind Ihnen eröffnet, dass es selbst keine Kinder haben möchte, obwohl Sie sich so gewünscht haben mal Oma zu werden. All das liegt im  Entscheidungsrahmen Ihres Kindes. Insofern lohnt es sich, früh anzufangen Erwartungs-Enttäuschungen zu trainieren. Es gibt noch einen anderen Blick: Beim Lesen Ihrer Frage habe ich gedacht, dass es für Sie und auch für das Kind vielleicht sogar eine Erleichterung sein kann, einen Jungen zu bekommen. Daran hängen in Ihrem Fall weniger eigene Erfahrungen und Wünsche. Damit könnten Sie mit einem Jungen freier umgehen als mit einem Mädchen. Sie haben weniger Erwartungen, an denen Sie sich enttäuschen können. Ein Tipp, den ich Ihnen gerne noch mitgeben möchte, weil Sie so explizit danach fragen, was Sie tun können, um im Moment der Geschlechtsinfo nicht enttäuscht zu sein: Nehmen Sie sich jeden Tag etwas Zeit auch darüber nachzudenken, worüber Sie sich am Mama-sein und am Zusammenleben mit einem freuen. Welche Erfahrungen wollen Sie mit Ihrem Kind machen? Was möchten Sie Ihrem Kind mitgeben? Was glauben Sie, wird sich an Ihrem Leben verändern, wenn Sie Mutter sind? Vielleicht finden Sie heraus, wie viel Ihrer Freude auf das Elternsein losgelöst vom Geschlecht Ihres Kindes ist.  Ob Sie ein Mädchen oder einen Jungen bekommen, ist Glücksspiel, aber sicher ist, dass einiges am Leben mit Kind so werden kann wie Sie es sich wünschen… und einiges eben auch ganz anders. Diese Spannung auszuhalten ist auch Teil von Elternschaft. Die wichtigste Botschaft an Ihr Kind ist, dass es geliebt ist. Herzliche Grüße, Miriam Hartz

von Dipl.-Psych. Miriam Hartz am 24.02.2024



Antwort auf: Ggender disappointment

Liebe Frau Hartz! Ihre Antwort ist unwerfend gut! Ich hatte sogar "pipi" in den Augen. Vielen Dank für Ihren Rat, den ich sehr gerne befolgen werde!  LG, Jenny   

von Dietanzhasis am 26.02.2024, 10:59



Antwort auf: Ggender disappointment

Liebe Jenny, vielen Dank für die Rückmeldung. Es freut mich sehr, dass meine Antwort in Ihnen weiter arbeitet. Herzliche Grüße Miriam Hartz

von Dipl.-Psych. Miriam Hartz am 27.02.2024



Antwort auf: Ggender disappointment

Hallo Jenny,   ich möchte dir auch gerne antworten, damit du weißt dass du nicht alleine bist. Ich war ehrlich gesagt etwas enttäuscht als ich erfahren habe das wir ein Mädchen bekommen, ich wollte doch so gerne Jungs-Mama sein! Mir hat geholfen, meine Motive zu hinterfragen, warum wäre mir denn ein Junge lieber gewesen? Eigene Erwartungen und Vorurteile die man hat, Ängste benennen usw.. Sich ehrlich damit auseinander zu setzen hat mir sehr geholfen und auch die Zeit sich darauf ein zu stellen während der Schwangerschaft. Als ich unserer Kleine dann sah -und auch jetzt- kommen mir diese Gedanken so unnötig und unwichtig vor, es ist ein kleiner Mensch den man über alles liebt! Und, wie Frau Dipl.-Psych. Hartz schon antwortete, man hat es nicht in der Hand wie der Charakter des Kindes letztendlich sein wird, am besten keine konkreten Erwartungen haben und das Kind es selbst sein lassen :) Liebe Grüße

von s4s4 am 11.03.2024, 15:31