Liebes Pädiatrisches Expertenteam,
Da mein drittes Kind, so wie die ersten beiden Kinder, höchstwahrscheinlich ein spätes Frühchen werden wird, meine Frage an Sie.
Ich bin ärztliche Kollegin (allerdings keine Kinderärztin).
Im Nachhinein verstehe ich nur schlecht, warum ich nach meinen beiden ersten Kaiserschnitten meine ersten beiden Kinder für 12 bzw. 7 Stunden nicht sehen oder berühren durfte.
Das erste Kind kam per Sectio an 34 + 4 zur Welt (wegen HELLP) mit 1980 g und einem Apgar von 7/9/9.
Das zweite Kind kam per Sectio an 34 + 1 zur Welt (wegen Präeklampsie) mit 2020 g und einem Apgar von 7/8/9. Das zweite Kind hat während der kinderärztlichen Erstversorgung (die sicher 20 -Minuten dauerte) durchgängig sehr kräftig geschrien.
Bei beiden Kindern war ich "well and awake" mit einer Spinalanästhesie. Beide Kinder benötigten anfangs einen CPAP, das erste Kind aber nur 30 Minuten lang. Beide Kinder verbrachte man direkt auf eine separate Frühgeborenen-Intensivstation in einem Level 3- Krankenhaus.
Weder ich noch mein Mann durften die Kinder anfangs sehen, obwohl die Kinderärzte uns bei beiden Kindern versicherten, es ginge ihnen gut. Das erste Kind wurde 2019, das zweite Kind 2021, in der Pandemie, geboren. Beide Kinder wurden im gleichen Krankenhaus geboren.
Um diese Situationen bei der dritten Geburt zu vermeiden, und bei einem vergleichbaren Apgar zumindest etwas "bonden" zu dürfen, habe ich mich erkundigt, ob ein solches Vorgehen normal oder vermeidbar sei. Mein Pränatalmediziner und meine Hebamme sagten mir, das sei "bei einem kreislaufstabilen Kind & Mutter" "keine gute klinische Praxis" (auch nicht bei einer Sectio).
Gilt ein Kind erst ab einem Apgar von 9 als "kreislaufstabil", und wenn ja, kann es schlicht und einfach wegen eines etwaigen CPAPs nicht den Eltern gezeigt oder von ihnen berührt werden?
Dies scheint #nicht# jede Klinik unterschiedlich zu handhaben, besonders, da es hierfür scheinbar GCP-Guidelines gibt. Daher erhoffe ich mir von Ihnen eine hilfreiche Aussage hierzu.
Vielen Dank im Voraus!
von
Aurora_
am 16.06.2023, 22:15
Antwort auf:
Ab welchem Apgar darf man bonden?
Hallo,
es gibt keine Regeln, die festlegen, ab welchem Apgar Eltern ihr Kind sehen dürfen, oder nicht. Wenn wir ein Frühgeborenes erstversorgen, konzentrieren wir uns auf das Kind und tun alles, was nötig ist, um ein stabiles Frühgeborenes auf die Station zu verlegen. Danach rekapitulieren wir und vergeben den Apgar. Dieser wurde ursprünglich etabliert für reife Neugeborene und nicht für Frühgeborene. Es gibt deshalb Bestrebungen, den Apgar-Score für Frühgeborene zu erweitern, um ihre klinische Situation besser darzustellen. Z.B. in Ihrem Fall hatte Ihr Kind in der 34/4 SSW nur 1980g, also noch nicht einmal 2kg Gewicht. Das ist deutlich zu wenig und birgt viele Gefahren für das Kind, die der Apgar nicht widerspiegelt. Alle Kinder mit einem Gewicht kleiner 2kg werden, unabhängig von ihrer SSW, aufgenommen und erhalten eine i.v.-Flüssigkeitstherapie, weil sie ein großes Risiko für Hypoglykämien haben.
Aber zurück zu Ihrer Frage: Wenn das Kind dann aufgenommen ist und eine stabile Situation entstanden ist, gibt es keinen medizinischen Grund mehr, das Kind den Eltern nicht zu zeigen. Manchmal kann es indiziert sein, dass die Eltern ihr Kind nicht gleich anfassen und bonden dürfen. Dies ist z.B. bei Extrem-Frühgeborenen der 24 oder 25 SSW der Fall, die sich in einem schwierigen Zustand befinden. Auch reife Neugeborene brauchen manchmal das sog. Minimal-Handling, weil sie, aus welchem Grund auch immer, einen hohen Sauerstoffbedarf haben und ihre ganze Kraft und Konzentration für die Atmung verwenden. Dazwischen liegt eine ganze Bandbreite von Möglichkeiten, wie Eltern ihr Kind sehen und halten können und z.B. auch zusammen mit der Schwester die Pflegerunde machen können. Hier ist die jeweilige Schwester die entscheidende Person, um die Eltern an ihr Kind heranzuführen. Sie zeigt, wie das Kind berührt werden kann und gibt das Kind, wenn der Arzt die Freigabe erteilt hat, zum Bonden raus. Denn ja, die Studien zeigen eindeutig, dass Eltern wichtig sind in dieser kritischen Situation und es für Kind und Eltern wichtig ist, trotz Inkubator, i.v.-Zugängen und Monitoring eine Bindung aufzubauen. Die Anwesenheit der Eltern, ihre Stimmen und das Bonden führten nachweislich zu besseren Vitalparametern bei den Kindern.
Jetzt haben Sie beide Kinder während der Pandemie bekommen. Schon vor der Pandemie, verstärkt während der Pandemie und jetzt immer noch, leiden vorallem Kinderkliniken unter Personalmangel. Frühgeborene trifft dies besonders hart. Um ein Frühgeborenes und seine Eltern zu betreuen, braucht die Schwester Zeit. Zeit, die sie nicht hat, weil sie zu viele Patienten versorgen muss. Ich selbst habe es schon erlebt, dass kein Besuch auf der Frühgeborenen-Intensiv möglich war aufgrund des Personalmangels. Oder die Eltern durften neben dem Bett ihres Kindes sitzen, aber Zeit, das Kind zum Bonden rauszugeben, hatte die Schwester nicht.
Ich kann nur spekulieren, ob das der Grund war, warum Sie nicht zu Ihrem Kind durften?
Denn auch wenn es Kindern nach der Erstversorgung schlecht geht und sie sich weiterhin in einem kritischen Zustand befinden, holen wir die Eltern, oder nur den Vater, wenn die Mutter noch nicht kann, zum Zeigen des Kindes und zum Erklären der Situation, auf die Station zum Kind.
Während der Pandemie war aber alles anders. Väter durften nicht in die Klinik u.ä.
Sie könnten sich vorab in der Klinik, in der Sie Ihr drittes Kind bekommen möchten, vorstellen und informieren. Fragen Sie nach der gängigen Praxis und der aktuellen Lage der Kinderklinik lassen Sie sich beraten.
Alles Gute,
L.Büttner
von
Fachärztin Louise-Caroline Büttner
am 17.06.2023